Lehrsonette
Übersicht | Anordnung | Formen | Sprache und Syntax | Stilmittel und lyrischer Ausdruck | Motive und Metaphorik | Beispiele | Entstehung und Adressatenkreis | Theologische Gesichtspunkte
1. Sey
in der that ein Christe |
51. Frewe
dich mit den frölichen: |
(101) Daß der mensch diese welt oder auch sein eigen fleisch / sondern vielmehr Gott lieben solle: |
Typographisch sind im Originaldruck jeweils zwei Sonette auf einer Seite angeordnet. Die zwei ersten Sonette befinden sich dabei auf einer rechten Seite, so dass sich alle folgenden Sonette bis einschließlich Sonett 98 in Vierergruppen auf einer Doppelseite präsentieren. Die beiden letzten Sonette, Nr. 99 und 100, sind dann noch auf einer linken Seite plaziert und werden von dem strophischen Abschlussgedicht abgerundet, welches die zwei letzten Seiten umseitig einnimmt.
Durch den typographischen Aufbau des Zyklus lässt sich dieser vage gliedern. Diese vorläufige Gliederung mag "oberflächlich" erscheinen, ist aber in vielen Fällen aus der thematischen Gliederung belegbar. So sind die beiden Sonette Nr. 1 und Nr. 2 sicherlich als Einstimmung zu betrachten. Im Sonett 1. Sey in der that ein Christe wird das Thema des gesamten Zyklus verdeutlicht, während 2. Leg' ab die sünde eine fast logische Ableitung aus dem ersten Sonett darstellt. Demgegenüber bilden die beiden letzten Sonette 99 und 100 mit dem Strophengedicht unweigerlich den Schlussstein des Zyklus.
Interessant und wichtig ist auch, dass das jeweils erste Sonett einer Doppelseite den Gedanken des letzten Sonettes der vorangehenden Doppelseite weiterführt. Das ist nun keineswegs zufällig, sondern eine der Eigenschaften, welche die Lehr=Sonnete überhaupt erst zu einem Zyklus machen. Zyklen sind ja nicht einfach Ansammlungen von literarischen Texten. Von einem Zyklus spricht man erst dann, wenn einzelne Teilwerke eine thematisch-kompositorische Einheit bilden. Besser noch ist es, wenn die Einzelwerke des Zyklus miteinander "kommunizieren", wenn sie intertextuell miteinander verknüpft sind. Erachtet man die Lehrsonnette des Plavius als den ersten deutschen Sonetten-Zyklus, ist es daher besonders wichtig, neben Form und Aufbau die inhaltlich-thematische Verknüpfung der Sonette untereinander zu betrachten, um dann - möglicherweise - eine übergreifende Textstruktur des Zyklus zu erkennen. Für den Fall dass eine solche Makrostruktur nicht vorhanden ist, handelt es sich bei den Lehrsonnetten nicht um einen Zyklus im vollen Sinne, sondern nur um eine thematisch gefärbte Sonetten-Ansammlung. Selbstverständlich käme Plavius auch dann noch der Ruhm zu, der erste zu sein, der so viele Sonette als solche beieinander versammelt hat.
Verglichen mit den Treugedichten oder den Trawr=Gedichten spielt schon die Präsentation der Einzelgedichte eine viel größere Rolle. Auch ihre Reihenfolge scheint nicht willkürlich, sondern fortschreitend zu sein. Damit ist nicht nur die Nummer gemeint, die jedem Sonett gegeben ist und welche die Sonette aneinander aufreiht wie Perlen an einer Kette. Die einzelnen Sonette stehen auch in Beziehung zueinander, und führen sich gegenseitig fort.
Schwieriger ist es, den Zyklus unter thematischen Gesichtspunkten zu gliedern. Plavius stellt seine Sonette in einen logisch-dialektischen Prozess, so dass sich ein Sonett aus dem anderen ergibt. Die Logik dahinter ist aber nicht zwangsläufig. So kann ein Thema vorübergehend abgeschlossen werden, später im Zyklus aber unter anderem Aspekt wieder auftauchen. Manchmal scheint Plavius auch mit den Erwartungen des Lesers zu spielen. Besser wäre es daher, von einer Art "rhetorischem" Prozess zu sprechen: Eine sprachliche Ordnung, welche die Inhalte mit den Mitteln der Rede und in der Rede selbst zum Ausdruck bringt1. Denn Plavius ist kein Mathematiker, auch nicht Dogmatiker, der einfach fertige Formeln wiedergibt; er ist Sprachkünstler.
Es ist zu betonen, dass Rhetorik und Logik bei Plavius keine Gegensätze bilden, sondern ein produktives Ganzes. Anders als viele Nachahmer beherrscht er beides professionell, nicht umsonst hatte er schon früher eine Logik und eine Poetik publiziert - beides unter dem Beifall anerkannter Autoritäten. Mit Rhetorik und Logik verknüpft Plavius seine Sonette zu einem überzeugenden Textsystem, wie es sich im Zyklus darstellt. Dazu gehört erst einmal, dass benachbarte Sonette sich aufeinander beziehen, was um so mehr auffällt, wenn sie eigentlich umseitig angeordnet sind. So stehen die Sonette 2. Leg' ab die sünde und 3. Verlass alles fraglos in enger thematischer Beziehung zueinander. Auch sonst existiert in den Lehrsonnetten kein Sonett zufällig und um seiner selbst willen. Das vermeidet Plavius geradezu.
Die meisten Sonette haben noch ein Pendant, dass den erstmals vermittelten Sachverhalt dialektisch aufgreift, korrigiert, weiterführt oder auf eine andere Situation bezieht und entsprechend transformiert. Das Pendant kann dabei gleich folgen oder auch an einer ganz anderen Stelle des Zyklus stehen, was beim aufmerksamen Leser dann Dèjà-vu-Erlebnisse hervorrufen kann2. Scheinbare Doppelungen sind keine Doubletten, Korrekturen keine Widersprüche, sondern stellen den Versuch dar, Inhalte in neue Erfahrungshorizonte zu übertragen. Bezogen auf die Inhalte, also die moralische Lehre der Sonette, bedeutet das, dass Plavius eine Art Exegese mit angeschlossener Predigt betreibt. Dieser Eindruck verstärkt sich noch dadurch, dass Plavius die moralischen Konzepte und Stichwörter seiner Sonetten-Predigt dem geistlichen Wortfeld seiner Zeit entnommen hat.
Aus der redegesteuerten Struktur ergeben sich große Schwierigkeiten, den Zyklus in monolithische Einzelthemen zu zerlegen. Solchen Zergliederungsversuchen sträubt sich der Zyklus als Ganzes und muss dann als zufälliges Gestrüpp von Sonetten erscheinen, die einander auffallend ähnlich sind, aber willkürlich variieren. Man würde dem zyklischen Charakter nicht gerecht, wenn man sich damit begnügen würde, den Zyklus nach Stichworten zu zerteilen, ohne auf die Prozesshaftigkeit rhetorischen Sprechens Rücksicht zu nehmen.
Eine simple Auflistung der enthaltenen Motive, womöglich in ihrer Reihenfolge, gibt nicht viel her. Man würde zwar zu schnellen Ergebnissen kommen, ginge aber am Kern der Sache vorbei. Ebenso ineffektiv ist bei den Lehrsonnetten die Suche nach kabbalistischen Zahlenschemata. Die Sonette in ihren Themenfeldern stehen in keinem strikt zueinander geregelten Verhältnis. Wenn auch der Autor durch seine Beziehungen zu den Mathematikern und Astronomen Crüger und Hevelius in dieser Richtung vorgebildet sein mag: mathematische, astronomische oder astrologische Relationen helfen bei der Durchdringung des Zyklus nicht weiter.
Hilfreich könnte dagegen eine Untersuchung zeitgenössischer
Perikopenverzeichnisse sein. Von Gryphius wie auch Albinus wissen wir, dass
diese Poeten solche Register als Inspirationsquelle benutzt haben3.
Betrachtet man die versammelten Überschriften der Lehrsonnette, so spricht
einiges dafür, dass Plavius zunächst einen solchen Katalog verwendet und zu
einigen Titeln dann jeweils ein passendes Sonett verfasst hat.
Freilich
ergibt sich dadurch weder die endgültige Anordnung des Zyklus, noch dessen Tiefenstruktur.
Diese lässt sich nur erkennen, wenn man nach Grundthemen Ausschau hält, die
im gesamten Zyklus immer wiederkehren, dann aber auch untersucht, wie
sie wiederkehren und variiert werden. Daher ist zunächst eine oberflächliche
Gliederung zu versuchen und dann von dieser aus die untergründige Vernetzung
der Sonette zu ertasten. Letzteres kann natürlich nicht erschöpfend geleistet
werden. Wohl aber lässt sich wenigstens beispielhaft aufzeigen, dass eine solche
Struktur überhaupt besteht. Ebenso kann man daran nachvollziehen, wie Plavius
vorgeht, wenn er Themen im Zyklus wieder aufgreift, variiert und neu gestaltet.
Schon mit der Einleitung fangen die Aufteilungsprobleme an, denn die eigentliche Einleitung (1. Sei in der that ein Christe, 2. Leg' ab die Sünde) fließt sofort über in den Themenkomplex Buße und Umkehr (3. Verlass alles, 4. Demütige dich). Von diesem geht es ebenso fließend weiter zu den christlichen Grundtugenden. Demut ist zwar keine Kardinaltugend nach 1 Kor. 13 wie Liebe, Glaube, Hoffnung (5. Liebe, 6. Gleübe, 7. Hoffe), dennoch ist sie Bestandteil aller christlichen Tugendkataloge. Im Anschluss folgt eine Gruppe von Sonetten, welche Handlungsaufforderungen an den Leser beinhalten (8. Dulde, 9. Faste, 10. Bete, 11. Dancke, 12. Lobsinge, 13. Höre). Die Titel erinnern bisweilen an die Namen von Kirchensonntagen. Ziel der Handlungen ist immer Gott.
Nach der Behandlung des christlichen Gehorsams gelangt der Zyklus dann zum Themenkomplex Vergebung (14. Vergib, 15. Sey nicht rachgierig, 16. Laß dir genügen, 17. Gib gerne, 18. Liebe den Feind). Darunter ist Ver-gebung im weitesten Sinne des Wortes zu verstehen - Plavius spielt bewusst mit der Sprache. Das spezifisch christliche Gebot der Feindesliebe setzt vorläufig den Schlussstein, leitet zugleich die Gruppe "Bergpredigt" ein (19. Arbeite fleissig, 20. Rede die warheit, 21. Richte nicht, 22. Verdamme nicht, 23. Sey sanftmütig, 24. Sey keusch und züchtig, 25. Sey friedlich:, 26. Sey barmherzig:, 27. Zörne nicht:, 28. Schweere nicht leichtfertig / viel weniger fälschlich:, 29. Hüte dich für fressen und sauffen:, 30. Hüte dich für sorge der narunge:, 31. Vertrawe Gott:, 32. Wirff die perlen nicht für die Säwen:).
Danach behandelt Plavius das Thema Ehre in allen seinen Schattierungen: Ehrfurcht vor Gott (33. Meid' abgötterey:, 34. Förchte Gott:), vor den Vorgesetzten (35. Sey der Obrigkeit unterthan:, 36. Ehre vater und mutter:), allgemein ein ehrenhaftes Verhalten (37. Lerne was gutes:, 38. Sey ehrerbietig:, 39. Sey freundlich).
Das führt direkt zum nächsten Themenkomplex, der sich mit der Gerechtigkeit in zwei Schattierungen beschäftigt: Gerechtigkeit als Tugend (40. Liebe gerechtigkeit:) und als Negativum, die Selbstgerechtigkeit (41. Treibe nicht schinderey:, 42. Halt dich nicht selbst für klug:). Die beiden daraufhin folgenden Sonette (43. Lass' dich nicht einen jeden wind wiegen:, 44. Wiederstrebe nicht der warheit:) kann man diesem Bereich vielleicht hinzuordnen, denn sie beschäftigen sich mit der Frage des (ge-)rechten Glaubens, und 45. Meide böse gesellschaft: führen dem Leser schließlich die negativen Folgen von ungerechter, schlechter Gesellschaft vor Augen.
Es folgt ein etwas weiter zu fassender Komplex, den man etwa mit 'Frieden, Ausgleich und Angemessenheit' betiteln könnte. Zunächst wird die Zufriedenheit thematisiert (46. Sey mit Gott zufrieden:, 47. Sey nicht mißgönstig:, 48. Sey nicht zänckisch:, 49. Deut' alles zum besten.), die aber jeweils nicht nur Zufriedenheit sondern indirekt auch Friedlichkeit und Angemessenheit fordern. Dann folgt an zentraler Stelle das etwas eigenartig anmutende Lobgedicht über die "Maße" (50. Halt maasse.), gefolgt von weiteren Sonetten, welche die Angemessenheit nun auf den Bereich des sozialen Interagierens übertragen (51. Frewe dich mit den frölichen:, 52. Trawre mit den trawrigen.). Plavius setzt dazu die Lektüre der Bibel voraus (53. Lies die Bibel.), welche als Konsequenz Gute Werke zeitigt (54. Beweise den glauben durch die wercke der liebe:).
Voreilige Leser könnten nun meinen, dass nun gleich ein Katalog der Guten Werke folgen dürfte. Dies ist nicht der Fall. Zuerst folgt das, was Kindermann an anderer Stelle als den "Schlachtruf gegen die Meckerer"4 bezeichnet (55. Siehe / dass du niemand, 56. Hüte dich für aberglauben., 57. Hüte dich für ruchlosigkeit., 58. Rede nicht garstig., 59. Frewe dich nicht eines andern unglücks:, 60. Rede den leuten nicht übel nach., 61. Gläube nicht den mehrleinträgern:, 62. Lüge nicht., 63.Stiel nicht:, 64. Sey nicht falsch:, 65. Lobe dich selber nicht:, 66. Tadele nicht alles.). Man kann diesen Komplex auch unter den positiven Titel "Wahrheit und Wahrhaftigkeit" fassen, denn er polemisiert nicht nur sehr deutlich gegen Unehrenhaftigkeit, Meckerei und Gezänk, sondern propagiert dabei immer Aufrichtigkeit und ein wahrhaftiges Verhalten aus dem Glauben heraus. Dies scheint Plavius wichtig gewesen zu sein, denn die Thematik kommt nicht nur an dieser einen Stelle im Zyklus zum Vorschein - sie durchwirkt ihn regelrecht. Wir haben es mit einem der Grundthemen des Zyklus zu tun.
Dann folgen die Guten Werke, wenn auch in leicht abgeänderter Form(67. Besuche die krancken:, 68. Tröste die elenden:, 69. Kleide die nackenden., 70. Speise die hungrigen., 71. Träncke die dürstigen:, 72. Herberge die frembden:). Gefängnisbesuche mutet Plavius dem gläubigen Christen jedoch nicht zu.
Im Anschluss daran wird noch einmal die Angemessenheit als christliche Lebenshaltung thematisiert (73. Vergrabe dein pfund nicht:, 74. Hüte dich für unnötiger trawrigkeit:, 75. Förchte dich nicht für der peste:), was schließlich eine vorbildliche Haltung gegenüber anderen (Generationen) voraussetzt (76. Ehre die alten:, 77. Gib der jugend gut exempel:) und in das allgemeine Sozialverhalten mündet. Hier betont Plavius zunächst Zurückhaltung und Verschwiegenheit, wieder mit deutlicher Kritik gegen üble Nachrede und Streit (78. Rede niemand übel nach., 79. Mische dich nicht in frembde händel, 80. Sey verschwiegen., 81.Wende dein' augen von unzucht ab:, 82. Verstopfe die ohren für unflätigen reden.); und er spricht sich einmal mehr für maßvolles, angemessenes Verhalten aus ( 83. Sey nicht leckerhaftig:, 84. Sey reinlich:).
Die folgenden Sonette bis einschließlich Nr. 90 beschäftigen sich mit der praktischen Anwendung der christlichen Tugenden auf den Nächsten (85. Schaube nicht auf / was du gutes vorhast., 86. Lache die leute nicht aus., 87. Halt / was du zu gesaget., 88. Sey danckbar., 89. Diene dem näh'sten wo du kanst., 90. Wende dem nähesten gefahr und schaden ab:), wobei spätestens hier deutlich sichtbar bereits behandelte Themen wieder aufgegriffen werden. So ist Sonett Nr. 88 nichts anderes als die konsequente Anwendung von Nr. 11 auf den Alltag; an Stelle Gottes ist nun der christliche Nächste Ziel der Handlungen.
Bereits das Sonett Nr. 90 deutet die nachfolgende Todesthematik an: Der Zyklus gelangt damit zum Thema "Hinwendung zu Gott/Todesbereitschaft", seinem letzten Komplex (91. Stelle deine sache Gott heim:, 92. Bleib in deinem beruff:, 93. Bedencke deines lebens gefahr:, 94. Bedencke die kürze dieses lebens., 95. Stirb deinen sünden ab:, 96. Sey bereit zu sterben / wenn Gott wil, 97. Tröste dich der auferstehung d' todten., 98. Gedenck' ans jüngste gerichte:). Die Sonette dieser Gruppe behandeln die typisch barocke Thematik der 'Vanitas' und des 'Memento mori'; sie gleichen ihren Verwandten in den Trawr=gedichten.
Der Schluss wird schon mit dem Jüngsten Gericht in Nr. 98 eingeleitet. Daran knüpfen die beiden letzten Sonette an: Sie thematisieren die Alternativen Himmel und Hölle (99. Suche was droben im Himmel ist., 100. Gedenck an die hölle:). Den Schlussstein setzt schließlich das Lied Daß der mensch nicht diese welt oder auch sein eigen fleisch / sondern vielmehr Gott lieben solle:. In seinen sieben Strophen thematisiert es die unausweichliche Vergänglichkeit alles Weltlichen und weist zusammen mit den beiden letzten Sonetten auf die unabdingbare Notwendigkeit eines tatsächlich christlichen Lebens hin. Damit zeigt es wieder zurück zum Anfang des Zyklus.
Sichtet man den Zyklus auf Grundthemen durch, so lassen sich im Wesentlichen drei Themen ausmachen: Wahrhaftigkeit, Angemessenheit und Toleranz. Aus der Wahrhaftigkeit ergibt sich Tat-Sächlichkeit und hieraus die Notwendigkeit zur Tätigkeit. Umgekehrt sind Lüge, Vorwitz und ein verzerrender Verbalmoralismus nicht mit der Wahrhaftigkeit zu vereinen. Garant für die Wahrhaftigkeit ist Gott (Nr. 13), bzw. die Schrift (Nr. 44). Dazu muss sich der Christ der Wahrheit Gottes (d. h. der Schrift) öffnen und mit ihm in einen tätigen Dialog treten (Nr. 5-13).
Die Umsetzung der Wahrhaftigkeit in die Tat muss auf angemessene Weise geschehen. Hier liegt die große Bedeutung der Angemessenheit. Der aus der Wahrheit lebende Christ muss dabei zum einen ein der Wahrhaftigkeit angemessenes, also maßvolles Leben führen; dies schließt alle unmäßigen Handlungsweisen gegenüber Gott und den Mitmenschen aus. Seinem Nächsten gegenüber muss sich der Mensch, der im Bewusstsein der Wahrheit lebt, angemessen verhalten, selbst den Feinden gegenüber, da dies zum christlichen Ethos gehört (Nr. 18). Nicht zufällig kehren die anfangs Gott zugedachten Tätigkeiten gegen Ende des Zyklus als soziale Verhaltensnormen wieder.
Die Lehrsonnette implizieren ein negatives Weltbild: Die Welt wird als unerfreulich, verdorben, böse und vergänglich angesehen. Um die Kluft zwischen Welt und christlichem Ethos auszuhalten, ist vom Christen viel Geduld und Toleranz gefordert: Gegenüber Gott und seinen pädagogischen Maßnahmen (Nr. 7, 8), gegenüber der Welt, und vor allem gegenüber dem Nächsten. Plavius legt das Gewicht darauf, anderen keinen Schaden zuzufügen: Er propagiert also eine aktive Toleranz gegen alle Widrigkeiten, keineswegs ein passives Ignorieren.
Neben ihrer inhaltlichen Verknüpfung spricht die einheitliche Gattung seiner Einzeltexte dafür, die Lehrsonnette als einen Zyklus zu betrachten. Schließlich handelt es sich bei allen um Sonette, genau 100 an der Zahl, sofern man das strophische Schlussgedicht hierbei ausnimmt. Die verbindende Kraft der Form ist dabei nicht zu unterschätzen. Schon in die beiden vorangehenden Teile der Trauer- und Treugedichte hat Plavius Sonette eingestreut. Sartor zählt in Plavius Werk insgesamt 117 Sonette5. Aber erst in den Lehrsonnetten wird das Sonett als Form zum literarischen Bindemittel.
Nun ist bei Plavius Sonett aber nicht gleich Sonett. In der überwiegenden Mehrheit sind sie zwar in einem einheitlichen Gestaltungsschema gehalten: Der Alexandriner fungiert in der Regel als Versmaß; die Reimfolge ist fast immer abbaabbaccdeed, wobei die a-Reime überwiegend weibliche Kadenzen aufweisen. Häufig setzen sich die Reime der Quartette auch in den Terzetten fort. Die Regel wird aber von nicht wenigen Ausnahmen ausgehebelt. Einige Sonette variieren das Reimschema der Terzette, so das sich dann praktisch drei Quartette und ein Couplet ergeben6. Im Alexandriner lassen sich 67 der Sonette lesen. Allerdings ist dieser bisweilen recht frei umgesetzt: Teilweise liegen Sinnbetonungen auch auf metrisch unbetonten Silben, und stellenweise kann das eine oder andere Sonett nicht einmal gewaltsam im Alexandriner alterniert werden - es ergeben sich unregelmäßige Daktylen oder Anapäste.
Dies trifft natürlich umso mehr auf die Sonette zu, denen ganz offensichtlich überhaupt kein sechshebiges Versmaß zugrunde liegt. Denn immerhin 21 Sonette weisen einen fünfhebigen Jambus auf, der sich nur manchmal und zeilenweise, wenn sich nach der vierten Silbe eine Zäsur findet, als echter Vers Commun auflösen lässt. Je fünf Gedichten liegt entweder ein vierhebiger Trochäus7, oder ein vierhebiger Jambus8 zugrunde. Es sei darauf hingewiesen, dass die Sonette mit alternativem Metrum nicht zwangsläufig mit denen identisch sind, welche das Reimschema variieren. Dadurch vergrößert sich die Anzahl der Sonette, die der Norm nicht unbedingt entsprechen.
Gerade durch die formale Strenge der Gattung Sonett fallen die sprachlichen Eigentümlichkeiten von Plavius wieder auf. Nur durch die Verschleppung von 'w' und 'g', durch die Reime wie 'ernewen/beügen' oder 'zeigen/erfrewen' (wie in Sonett Nr. 7) erst zu reinen Reimen werden, wird das Reimschema aufrecht erhalten. Ohne größere Gewissensbisse gebraucht Plavius auch unterschiedliche Formen des gleichen Wortes synonym, wie 'gunst/kunst', 'gonst/konst'. Bisweilen treten diese Formen sogar im gleichen Sonett nebeneinander auf, beispielsweise in Sonett Nr. 4 'konst/gonst' und 'brunst/dunst' in den b-Reimen der Quartette.
Die Syntax des Plavius ist in den Lehrsonnetten knapp und prägnant. Durch die starke formale Vorgabe wird sie noch enger als in den Epithalamien und Trawr=gedichten mit rhetorischen Vorbedingungen verknüpft. Die Einzelsätze der Sonette sind meist nach dem gleichen syntaktischen Schema aufgebaut. Dieses ergibt sich aus dem Unterweisungscharakter des Zyklus. Sie beginnen oft mit Interrogativsätzen, meist eingeleitet mit den Pronomen 'wer', 'was' (z. B. "Wer will eyn Christe seyn / der muss auch christlich leben;" in Nr. 1). Ebenso häufig ist ein einleitender Konditionalsatz (z. B. "Wenn vns des Herren hand und strafe hat getroffen/ [...]", Nr. 7) dem dann, unter Umständen nach einigen Einschüben, der Hauptsatz folgt ("[...] So steht / Herr / deine güt' vns noch zu hoffen offen.").
Immer wieder wird durch rhetorische Satzfiguren eine größere syntaktische Klammer zwischen Konditionalsatz und Hauptsatz erzeugt, was die kognitive Erwartungshaltung beim Leser erhöht. Die Konditionalkonjunktion am Satzanfang fällt häufig weg (z. B. wie in "Wird dir das fleisch zu starck [...]", Nr. 9).
Relativ selten sind - vor allem am Sonettbeginn - einfache Hauptsätze. Das Subjekt ist dann meist das Vorbild Gott ("Gott ist ein friede=Gott /", Nr. 25), Abstrakta im Sinne einer Tugend ("Maass' ist der tugend ziel", Nr. 50) oder ein allgemeiner Sachverhalt. In Verbindung mit der Rhetorischen Frage treten bisweilen Fragesätze mit direkten Appellationen auf ("Ach lieber mensch / wer ist / [...]", Nr. 49 oder "Wie kanst du dich der vnthat unterwinden / [...]", Nr. 41).
Im Korpus der einzelnen Sonette spielen - wieder aufgrund des unterweisenden Charakters - Modalverben wie 'sollen', 'wollen' oder 'müssen' eine tragende Rolle; auch die vielen ist-Sätze mögen damit zusammenhängen. Inversionen von Substantiv und Adjektiv meidet Plavius, vielleicht nach der Vorgabe von Opitz.
Im Vergleich zu den Epithalamien hält sich Plavius in seinen Sonetten mit Redeschmuck eher zurück. Er verwendet hier rhetorische Mittel vorwiegend, um die argumentative Aussage zu steigern, weniger zur Vermehrung des sprachlichen Ornats. Dies mag durch die harte formale Vorgabe, aber auch durch den rhetorischen Stil bedingt sein. Dennoch verzichtet Plavius nicht darauf, in manche seiner belehrenden Sonetten kunstvolle Figuren einzubauen.
Am häufigstens tritt wieder die Anapher in Erscheinung. Sie findet sich auch im Zyklus in großer Zahl. Sie brilliert wiederum in zahlreichen anaphorischen Reihungen9, manchmal auch in Kombination mit Anadiplosen oder der Klimax. Anaphern und Assonanzen verwendet Plavius mitunter auch in Wortspielen. Solche kommen in den Lehrsonnetten zwar noch seltener vor als in den Trawr=gedichten, aber der Zyklus kennt einige schöne Beispiele, beispielsweise das weiter unten angeführte Sonett 62. Lüge nicht.
Der eigentliche Vorrang gilt im Zyklus den argumentativen Redefiguren: vor allem die Rhetorische Frage wird deshalb häufig von Plavius eingesetzt; ihre starke argumentative Wirkung steigert er meist noch weiter durch direkte Appellation an den Leser, der sich dadurch betroffen fühlt. Der Leser muss sich oft Vorwürfe gefallen lassen ("Was bildest du dir ein [...]", Nr. 42); ja bisweilen wird Plavius ihm gegenüber richtig aggressiv: ("Du Bluthund du! [...]", Nr. 41). Nicht selten droht er dem Leser mit (himmlischer) Gewalt, wenn er ihn so direkt anspricht (" [...]Gott wird dich wieder finden.", Nr. 41). Zur argumentativen Überzeugung tragen ferner zahlreiche Antithesen bei, die bisweilen als Antimetabole oder Chiasmen in Erscheinung treten (z. B. "Er liebet / den er straft / er strafet / den er liebt.", Nr. 8).
An manchen Stellen findet sich ein Lyrisches Ich10. Dieses bringt sich im Sinne einer bezeugenden Instanz ein ("gleübe mir", "so deucht mich"), doch stets so floskelhaft, dass es nicht als Ausdruck eigenständiger dichterischer Persönlichkeit auszudeuten ist. In den Lehr=Sonneten fungiert es in keinem Fall als empfindende Ich-Instanz; das Lyrische Ich will sich auch nicht als intellektuelle Autorität herausstreichen, sondern beglaubigt immer nur die Argumentation. Es ist kein lyrischer Plavius, der hier spricht, sondern eine anonyme Lehrinstanz als weiteres rhetorisches Mittel der Überzeugung.
Die Lehrsonnette schöpfen ihre Motive unzweifelhaft aus der christlichen Metaphorik; mit dieser ist die dem Zyklus eigene Metaphorik weitestgehend identisch. Anders als in den Treugedichten oder den Trawr=gedichten spielt antike Mythologie kaum oder gar keine Rolle.
Einige Motive, auch manche Überschriften, muten an, als wären sie direkt der Luther-Bibel entnommen, wobei Plavius nicht wörtlich zitiert, sondern sich allgemeiner Motive, Floskeln und Redewendungen aus dem protestantischen Diskurs bedient. Zitiert werden neben der Bergpredigt, deren Einfluss in den ganzen Lehrsonnetten spürbar wird, auch Lukas, die Psalmen (z. B. Ps. 147,9 in 11. Danke.) oder Paulus. Plavius verwendet das christliche Motivgut stellenweise sehr eigenwillig, so erweitert er die fünf guten Werke um zwei weitere, oder fügt den Seligpreisungen der Bergpredigt eigene hinzu.
Mittelalterlich wirkt die Thematik des 'miles christianae' wie in 2. Leg ab die sünde.:
Last vns des glaubens schwert mit frewdigkeit zu kämpfen
Wie vns verordnet ist / recht führen / als wir sehn /
Daß vormals ritterlich
von Christo selbst gescheh‘n.
Er giebet schwerth vnd sieg:
er kann die feinde dämpfen.
Diese Thematik ist angesichts der tobenden Religionskriege kaum verwunderlich und ganz bestimmt nicht auf die Lehr=Sonnete von Plavius beschränkt. Merkwürdig antiquiert mutet jedoch das Vokabular an, das Plavius bisweilen verwendet.
Wer
wil ein Christe seyn / der muss auch christlich leben; |
v-v-v-/v-v-v-v |
a |
Formal betrachtet repräsentiert das erste Sonett in Reimschema und Metrum die Mehrzahl der "normalen" Sonette: Es ist im Alexandriner gehalten, das Reimschema ist aBBaaBBaCCdEEd, die a-Reime sind weiblich; kurz gesagt entspricht es der Opitz'schen Vorgabe. Ja, die Grenzen der Quartette und Terzette stimmen hier sogar mit den syntaktischen Satzgrenzen überein.
Thematisch führt das Sonett erwartungsgemäß in das Thema des Zyklus ein: Es geht darum, in der Tat ein Christ zu sein, sein Christ-sein tätig zu beweisen. Es genügt nicht, einfach Christ sein zu wollen oder zu glauben, sondern dieser Anspruch muss auch umgesetzt werden, und zwar durch tätige christliche Nachfolge (V.1-2). Diese umfasst allerdings auch Unangenehmes (V.3) und kann durchaus dem irdischen Ansehen entgegenstehen (V.4). Als ständiges Vorbild soll dem Christen die Passion dienen (V.5); ebenso soll der Christ sich darauf vorbereiten, selbst den Kelch des Leidens (metaphorisch: "den herben thränenbach", V.6) zu trinken, wenn Gott es will (V.7), und das eigene Leid duldsam zu tragen (V.8).
Negativ ausgedrückt (wir befinden uns nun übrigens schon im Sextett): Wer sich zu den Christen zählt (V.9), unterlässt, was unchristlich ist. Statt dessen tut er, was der Lehre Christi entspricht (V.10). Er überwindet Widerstände, die dem Christ-Sein entgegenstehen, insbesondere das Körperliche und die damit zusammenhängenden Begierden (V.11). Am Schluss wird noch einmal hervorgehoben, dass die Liebe zum Herrn (Christus) in der Tat zu erfolgen hat (V.12): Der Christ muss dem tätigen Beispiel Christi folgen (V.13). Dann kann er sich wirklich rechtens einen Christen nennen (V.14).
Mit den im Sonett geforderten Punkten deuten sich schon die wesentlichen Grundthemen des gesamten Zyklus an: Zuallererst die Notwendigkeit zur Tat, die Tatsächlichkeit, also die Wahrhaftigkeit. Zur Umsetzung ist Duldsamkeit (lat. 'tolerantia') erforderlich, welche wiederum mit dem Ertragen von Widrigkeiten zusammenhängt. Toleranz (im Sinne von ‚tolerantia‘) ist gefordert. Von den Widerwärtigkeiten – allem voran das Fleischliche und die Begierden – muss sich der Christ frei machen, um in angemessener Weise dem Beispiel Christi folgen zu können. Das verweist direkt auf das nächste Sonett (2. Leg' ab die Sünde) und führt in den anschließenden Themenkomplex der Umkehr und Buße (Nr. 2-3) ein.
Maass'
ist der tugend ziel / wer das wil vberschreiten / |
-vv-v-/v-v-v-v |
a |
Zugegeben, mit gutem Willen alterniert lässt sich das 50. Sonett, welches nicht nur von seiner Plazierung her, sondern auch inhaltlich die Mitte (bzw. Maße) im Zyklus thematisiert, als Alexandriner lesen. Dann aber muss man in Kauf nehmen, das thematisch doch so gewichtige Wort ‚Maass‘ in den meisten Fällen unbetont zu lassen und die Betonung jeweils auf das folgende ‚ist‘ zu lesen. Inwiefern dies einen bedeutungsmäßig vertretbaren Sinn ergibt, sei dahingestellt. Man könnte sich damit immerhin auf die frühere Forderung nach Tat-Sächlichkeit und der Seinswirklichkeit von Tugenden berufen. Sinnvoller erscheint mir aber, in den betroffenen Versen einfach die ersten sechs Silben bis zur Zäsur zu einem progressiven Daktylus mit Kretikus zusammenzufassen (-vv -v-). Ab der Zäsur entspricht das Versmetrum wieder dem eines Alexandriners (mit Ausnahme der Verse 10, 13 und 14) .
So absonderlich das Metrum auf den zeitgenössischen Leser gewirkt haben muss, erscheint auch die Thematik des Sonetts: Es wird hier, gerade zu als Allheilmittel, die höfische Tugend der Maße (nicht etwa nur die 'Mäßigkeit') angepriesen. Der Begriff 'maasse' taucht hier gleich dreizehnmal, im ganzen restlichen Zyklus aber gar nicht mehr auf. Allenfalls das Sonett Nr. 9 bespricht noch die "Mäßigkeit" als "grab" der fleischlichen Begierden. Handelt es sich aber um dieselbe Tugend? Doch obwohl es nicht verbalisiert wird, ist das Thema Mäßigkeit und Angemessenheit im Zyklus allgegenwärtig spürbar, weil die Tugendlehre des Plavius auf Angemessenheit fußt.
Da das Sonett die Mitte des Zyklus bildet, ist noch verwunderlicher, dass hier zwar von den Tugenden und einem ritterlichen Bestreiten des Lasterheeres die Rede ist, aber keine wirklich religiösen Motive in Erscheinung treten. Nicht einmal der sonst fast allgegenwärtige Gott und Herr findet Erwähnung. Statt dessen ist diesmal die Maße selbst der "tugend mutter" (V.9). Man könnte daher dieses Sonett mit Fug und recht antik nennen: der christliche Gott kommt darin nicht vor.
Anfang und Ende des Zyklus verweisen auf Christus bzw. die Ewigkeit. Die Mitte des Zyklus bildet jedoch ein stoizistisches Gedicht über die bürgerliche Tugend Maße - mehr noch: Betrachtet man die im Sonett gemachten Behauptungen unter logischen Gesichtspunkten, so ergibt sich, dass die Maße zum einen "der tugend ziel"(V.1) ist, aber gleichzeitig "der tugend mutter"(V. 9). Somit ist die Maße Anfang und Ende aller Tugenden, die Tugenden selbst damit Mittel und Zweck, sofern man die Maße nicht mit Gott gleichsetzt11.
Dies gibt nicht wenig Aufschluss auf die eigentliche, verdeckte philosophische Aussage des gesamten Zyklus: Für ein tugendhaftes Verhalten ist Gott nicht erforderlich: Sinn und Zweck ist die Angemessenheit des Verhaltens. Gott bzw. Christus sind nur für die Wahrhaftigkeit (also die Begründung) von zentraler Bedeutung, nicht für das konkrete moralische Handeln selbst.
Die lügen ist des Satans kind. |
v-v-v-v- |
A |
Nachdem zuvor zwei Sonette vom Anfang und der Mitte des Zyklus behandelt wurden, geböte es die Rhetorik eigentlich, nun das Schlusssonett zu erläutern. Darauf möchte ich aus formalen Überlegungen heraus jedoch verzichten. Statt dessen habe ich mich für eines der Sonette entschieden, in denen der Sprachkünstler Plavius noch etwas mehr zum Vorschein kommt12.
Das 62. Sonett ist ein Beispiel für die noch etwas "exotischeren" Sonette, die es bei Plavius eben auch gibt. Was Opitz von solchen Sonetten gehalten hat, wissen wir nicht, aber spätestens seine Nachfolger haben sie kritisch beäugt.
Das Sonett ist in vierhebigen Jamben gehalten, wobei - im Gegensatz zu den meisten anderen Lehrsonetten sowie den Empfehlungen von Opitz - die a-Reime männliche Kadenzen aufweisen, während die b-Reime weiblich sind. Ebenso interessant ist, dass wir es reimtechnisch mit drei Quartetten und einem Couplet zu tun haben, wobei das Couplet aber die inneren Reime des dritten Quartetts aufnimmt und daher stark an das dritte Quartett gebunden ist. Die Syntax wiederum teilt die letzten sechs Verse eher in zwei Terzette auf.
Das 62. Sonett ist ein gutes Beispiel für die bei Plavius so beliebten Wortspiele. Die Verben 'lieben', 'liegen' und 'lügen' werden miteinander vermengt und ihre Klangähnlichkeit dazu verwendet, auch Sinnzusammenhänge zu suggerieren. Man fühlt sich bisweilen an das Motiv des Lasterkampfes erinnert: Es ist die Rede von "siegen" (V.6) und "unterliegen"(V.7). Ja durch den Gegensatz Satan - Christus in Verbindung mit dem Futur und der "Ewigkeit" in den Versen 10-11 deutet sich fast schon das Motiv eines apokalyptischen Endkampfes zwischen Lüge und Wahrheit an. Der Verlierer steht schon fest, denn die Lüge wird mit ihren Tücken die Wahrheit nicht dauerhaft unterdrücken. Lüge und Wahrheit sind als Allegorien präsentisch aufzufassen: Denn wie die drei letzten Verse (12-14) zu verstehen geben, bringt sich ein Lügner jetzt schon in Gefahr, weil er den Stricken des Teufels seine arme Seele nicht entrücken kann. Hier kommt das zeitgenössische Motiv der Seelenbindung zum Ausdruck.
Das 62. Sonett greift als Antithese zum Grundthema "Wahrhaftigkeit" nochmals Sonett Nr. 20 auf. Dort wurde betont: "Ein Christe soll die warheit nicht verschweigen /". Hier wird nun ex negativo gefordert: "Lüge nicht". Ausser in der negativen Ausdrucksweise unterscheiden sich die beiden Sonette durch ihren Kontext. Nr. 20 steht im Kontext der "Bergpredigt"-Sonette. Dort werden die christlichen Forderungen, bzw. Ihre Umsetzung heraus gearbeitet. Dagegen befindet sich Sonett Nr. 62 im Kontext der Sonette, die Eigennützigkeit, Gezänk und Streit verurteilen. Das Sonett proklammiert - anders als seine Nachbarn - nicht so sehr eine Verurteilung als vielmehr Trost und Zuspruch. Dass die Lüge zu nichts führt, wissen wir bereits aus Nr. 20. Im Wortspiel von Nr. 62 erweist sich aber: "Wer Christum liebet / wird nicht liegen /" - "liegen" im Sinne von "unter-liegen": letztlich siegt also die Wahrheit, und das mag dem Leser wieder Hoffnung geben.
Über die Entstehung der Lehr=Sonnete lässt sich über das bereits Gesagte hinaus nicht viel mitteilen; Ähnliches gilt für den Adressatenkreis13. Die Treugedichte und die Trawr=gedichte machen es uns leichter: Sie sind Gelegenheitsgedichte. Die jeweiligen Adressaten werden fast immer angegeben, die Gedichte lassen sich daher meist genau datieren14. Dies trifft nicht auf die Lehr=Sonneten zu: Sie stellen keine Gelegenheitsdichtung dar und der Zeitraum ihrer Entstehung ist schwer erschließbar. Sicher wissen wir nur, wann sie gedruckt wurden.
Es ist allerdings zu vermuten, dass Plavius die Lehr=Sonnete erst spät in seiner Wirkungszeit verfasst hat. Dies muss nicht erst 1630 geschehen sein. Je nachdem, wieviel Zeit man Plavius zur Erstellung eines Korpus von 100 Sonetten einräumt, kommt das Jahr 1629, bzw. der Zeitraum 1628/29 in Frage. Einen allzu großen Abstand zu den anderen beiden Teilen der Trauer- und Treugedichte (in ihrer jetzigen Form als überarbeitete Sammlungen) sollte man nicht annehmen, dafür sehen sich die enthaltenen Sonette formal zu ähnlich. Denkbar wäre eine Entstehung des Zyklus direkt im Anschluss an oder parallel zu den Trawr=gedichten und dem Anhang der Treugedichte15.
Eine andere Frage ist, wozu oder für wen Plavius den Zyklus Lehr=Sonnete verfasst hat. Es ist beim Praktiker Plavius auszuschließen, dass er den Zyklus um seiner selbst willen erdichtet hat, nicht einmal um eine rhetorische Trias im Gesamtwerkes zu erzeugen.
Plavius war, wie sein Schüler Michael Albinus bezeugte, als Privatlehrer tätig. Seine beiden lateinischen Werke bringen ihn durch die Widmungsgedichte mit der Petri-Schule und dem Danziger Stadtgymnasium in Verbindung. Interessant ist in dieser Beziehung auch, dass Plavius seine deutschsprachigen Werke beim Danziger Gymnasial-Drucker Johannes Rhete publizieren ließ. Der Titel Lehr=Sonnete deutet darauf hin, dass die Sonette zur Lehre gedacht waren. Sollten die Tugendgedichte als gelockerte Form der Unterweisung der Jugend dienen?
Das wäre nur schwer vorstellbar in einer Zeit, da vornehmlich Latein als Sprache zur Vermittlung von Wissen fungierte. Es wäre schon eine kleine Bildungsrevolution gewesen, hätte Plavius seinen Schülern statt klassischer Autoren seine Sonette vorgesetzt. Am ehesten hätte er sich das noch in seiner privaten Institutio leisten können. Der Hinweis "In verlegunge des Autors" am Schluss des Zyklus weist darauf hin, dass Plavius seine Werke privat herausgab, nicht aber im Auftrag der Stadt oder einer Schule.
Sofern die Lehr=Sonnete im Unterricht gebraucht wurden, ist es wichtig, zu betrachten, welche Inhalte damit gelehrt werden: Offensichtlich handelt es sich um ein religiös-moralsches Werk. Wenn man sie als aber religiöses Lehrwerk versteht, stellen sie dann vielleicht eine Art Katechismus in Sonettform dar? Um dies zu beurteilen, muss man besonderes Augenmerk auf die darin vermittelten theologischen Aussagen richten.
Schon in der Vergangenheit wurden aus dem Zyklus einige Anhaltspunkte auf die theologische Haltung, aber auch die Person des Plavius gezogen. So war es unter anderem das Sonett 56. Hüte dich für aberglauben, mit dem man ausschloss, dass Plavius katholisch war. Andererseits greift Plavius mit seinem Motto "Sey in der that ein Christe" einen Punkt auf, der dem Luthertum - zumindest seiner Orthodoxie - kaum aus der Seele gesprochen war. Die von Plavius faktisch im gesamten Zyklus propagierte Werkgerechtigkeit widerspricht vehement der lutherischen Rechtfertigungslehre; anstatt der lutherisch/paulinischen Gnadenlehre nehmen klassisch-philosophischen Tugenden eine dominierende Rolle ein - allen voran Wahrhaftigkeit, Toleranz und Angemessenheit. Der Zyklus basiert letztlich auf einer Handlungsmoral, in deren Mittelpunkt zumindest argumentativ das menschliche Ethos steht. Pädagogisches Ziel ist ein christlicher 'Vir bonus'.
Die Rolle Gottes ist ambig. Zwar ist er im Zyklus fast allgegenwärtig16, spielt aber immer nur die Rolle eines Wächters über die Tugendhaftigkeit. "Gott wil vns / wenn er straft / sein vaterhertze zeigen:", heißt es in 8. Dulde: "Er liebet / den er straft / er strafet / den er liebt". Gott straft aus pädagogischen Gründen. Er ist ein Pädagoge. Dies widerspricht nicht dem theologischen Standpunkt. Aber weniger theologisch, zumindest weniger protestantisch, ist die Unterordnung Gottes in der Tugend-Argumentation:
Der Mensch soll tugendhaft sein, weniger aus reiner Liebe zu Gott oder religiöser Verantwortung als vielmehr zu seinem eigenen Wohl17: Es ist einfach gut, gut zu sein; es bringt Vorteile. Man soll das Gute auch schon deshalb tun, um Strafe (durch Gott oder die Welt) zu vermeiden. Wer Gutes tut und gut ist, dem ergeht es letztlich auch gut - Das ist die klassische Position der aristotelischen Tugendethik.
An die Stelle der Verantwortungsethik der protestantischen Morallehre setzt Plavius eine Soziallehre, welche auf Guten Werken ebenso wie auf den klassischen Prinzipien der Angemessenheit und Wahrhaftigkeit beruht. Dezidiert protestantisch ist wiederum die Abneigung gegen alles allzu Intellektuelle, wie sie sich im Zyklus immer wieder äußert. Die Vanitas-Thematik und das Memento mori vor allem der 90er Sonette entspricht zeitgenössischen Ansichten.
Mit seinen Lehrsonnetten steht Plavius eher den Reformierten nahe als den Lutheranern, vielleicht sogar dem Kalvinismus, insofern dieser davon ausgeht, dass sich gelebtes Christentum zwangsläufig in einem tugendhaften Verhalten und arbeitsamen Streben zeigen muss18. Da sich Plavius, was konfessionelle Unterschiede betrifft, in allen seinen Werken vorsichtig zurückhält, kann man den Zyklus keiner bestimmten Konfession zurechnen. Über die Konfession des Autors sagt der Zyklus noch weniger aus. Vielmehr vermittelt der Zyklus zwischen den Fronten, so in seinem berühmten Sonett 22. Verdamme nicht:. Darin kritisiert Plavius scharf den Glaubensstreit seiner Zeit. Von seinen theologischen Aussagen her betrachtet spricht der Zyklus sogar dagegen, dass Plavius Theologe war19. Jegliche konfessionelle Stellungnahmen oder Themen - welche für eine tätige Glaubenspraxis keineswegs unwesentlich sind - fehlen oder werden sogar bewusst umgangen. Plavius spricht sich lediglich scharf dagegen aus, sein Fähnlein nach dem Wind zu hängen und ständig die Konfession zu wechseln (43. Lass' dich nicht jeden wind wiegen). Dies lässt sich jedoch viel eher auf den großen Gegensatz protestantisch-katholisch beziehen als auf die innerprotestantischen Fehden.
Wäre Plavius Berufstheologe gewesen, wäre er gerade in Danzig um eine konfessionelle Stellungnahme kaum herumgekommen. Seine Gleich-Gültigkeit gegenüber konfessionellen Feinheiten, im positiven Sinne: seine erstaunliche Toleranz in diesen Belangen deutet auf einen Gelehrten hin, der die theologischen Haarspaltereien seiner Umgebung leid geworden ist, und daher ein Christ-Sein-In-der-Tat oder nach klassisch-philosophischem Vorbild ein Gut-Sein in der Tat, eine christliche Tugendethik, fordert. Dabei fehlt natürlich Plavius schon der Menschheitsoptimismus der Humanisten. Plavius ist weit entfernt davon, den Menschen um seiner selbst Willen zu preisen. Aber aus der Kraft christlicher Tugenden ein gutes Leben zu führen traut Plavius seinen Lesern noch zu.
Um einen Katechismus handelt es sich bei den Lehrsonnetten sicherlich nicht; dazu differenzieren sie zu wenig die theologische Fragen der Zeit. Eine Verwendung zur religiösen Unterweisung von Schülern ist daher auszuschließen. Wohl aber können die Lehrsonnette als moralische Erbauungslektüre gedient haben. Vielleicht waren sie ursprünglich sogar einmal als programmatische Schrift des Magisters "gegen die Meckerer" gedacht. Man sollte die Lehrsonnette allerdings immer im Verbund mit den anderen beiden Teilwerken der Trauer- und Treugedichte beurteilen, denn als eine separate Streitschrift waren sie wohl nicht geplant. Beurteilung des Werkes >>
1Anders ausgedrückt, quasi eine "allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden".
2Man kann dies schon nachvollziehen, wenn man sich die oben angeführte Übersicht der Sonettüberschriften genauer betrachtet.
3Vgl. Stekelenburg, S. 291.
4Vgl. Kindermann, S. 32.
5Dabei finden sich 10 Sonette in den Treugedichten, und 7 in den Trauergedichten. Vgl. Sartor, S. 123.
6Zu den Formen vgl. weiter unten, Kapitel 11.3 Formen der Lehrsonnette.
7Einen vierhebigen Trochäus weisen auf: a) mit weiblicher Kadenz in den a-Reimen die Sonette Nr. 26, 61, 78, 97; b) mit männlicher Kadenz das Abschlußgedicht.
8Einen vierhebigen Jambus weisen auf: a) mit weiblicher Kadenz in den a-Reimen die Sonette Nr. 55, 56, 57, 72; b) mit männlicher Kadenz das Sonett Nr. 62.
9Beispiele für anaphorische Reihungen finden sich in den Sonetten Nr. 16, 23, 27, 48, 50 und 100.
10Personalpronomina der 1. Person treten in den Sonetten Nr. 9, 22, 24, (33,) 35, 42, 64 - insgesamt 7 mal. Gegenüber den insgesamt 261 mal auftretenden Flektionen der 2. Person ist ihre Zahl geradezu verschwindend gering.
11Man könnte sich mit einigen Mühen aus der Affäre ziehen, indem man die "Maasse" des Plavius mit der biblischen Weisheit (Sophia) als der Königin und Mutter der Tugenden identifiziert. Diese Gleichsetzung erscheint mir aber nicht ohne weiteres möglich. Überzeugender wäre eine Ableitung vom Logos-Begriff, wie er in der antiken Lehre der Stoa thematisiert wird.
12Natürlich hat es auch das 100. Sonett noch rhetorisch in sich; aber es weist kein so exemplarisches Wortspiel auf wie Sonett Nr. 62.
13 Zwar wird die Jugend häufiger apostrophiert als das Alter, dies hat aber wohl topologische Ursachen. Bemerkenswert wäre es, wenn Plavius umgekehrt vorgehen würde.
14Vgl. Sartor, S. 60.
15Die Sonette in den Trauergedichten lassen die Lehr=Sonnete nicht nur vorausahnen; das auffällige Abschlußgedicht des Zyklus verweist formal auch wieder auf die Trawr=gedichte zurück.
16Die Vokabel 'Gott' allein oder in Wortverbindungen tritt im Zyklus insgesamt 198 mal auf, 'Herr' immerhin noch 63 mal; im Schnitt also mindestens zweimal je Sonett.
17Das eigene wohl des Menschen ist dabei nicht zu verwechseln mit dem egoistischem Eigennutz, den Plavius scharf verurteilt.
18Gegen den Kalvinismus spricht seine konsequente Ablehnung des 'Mammon' und des "Habens ohne Brauch" (Nr. 30), die in Verbindung mit seiner pragmatischen Einstellung dem realexistierenden großbürgerlichen Kalvinismus der Stadt Danzig krass widersprach. Hier steht Plavius wohl eher wieder dem lutheranisch geprägten Kleinbürgertum nahe
19Dies behauptet aber Stekelenburg im Zusammenhang mit der nicht nachweisbaren Hochzeit von 1637. Vgl Stekelen, 54.